Kein Rahmenabkommen CH-EU: Wie weiter mit dem Wirtschaftsraum Rheintal?

Kein Rahmenabkommen CH-EU: Wie weiter mit dem Wirtschaftsraum Rheintal?
Reinhard Frei (Rheintal Unternehmertreff), Undine Zach-Palvelli (WKO Außenwirtschafts-Center Zürich), Claude Stadler (SFS Group), Claudia Gamon (EU Abgeordnete), Mike Egger (Nationalrat CH), Norbert Sieber (Freundschaftsgruppe AT-CH), Roland A. Müller (AGV), Martin Ohneberg (IV-Vorarlberg), Benedikt Würth (Ständerat CH) (Foto: Andrea C. Plüss)

Lustenau/Heerbrugg (A/CH) Eine gemeinsam – von beiden Seiten des Rheins – veranstaltete Podiumsdiskussion befasste sich mit den Folgen sowie der weiteren Vorgehensweise nach der Schweizer Aufkündigung der Gespräche zum Rahmenabkommen zwischen Schweiz und EU.
Nach sieben Jahren hat die Schweiz ihre Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen zu den bilateralen Beziehungen einseitig beendet. Jahrelang haben Bern und Brüssel versucht, die rund 120 bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz unter ein Dach zu bringen. Noch im Sommer 2020 sah sich die Schweiz „auf einem guten Weg“. Doch am 26. Mai 2021 erklärte der Schweizer Bundesrat die Gespräche ohne erzielte Erfolge für beendet.

Grund genug für hochkarätige Vertreter aus Industrie, Wirtschaft und Politik – von beiden Seiten des Rheins – sich bei SFS in Heerbrugg/SG zu treffen und auszutauschen, wie es in der regionalen Zusammenarbeit weitergehen kann. Dabei diskutierten die Vorarlberger Initiative „Wir sind Europa“ (Land Vorarlberg, WKV und IV-Vorarlberg) sowie der Rheintal Unternehmertreff und der Schweizerische Arbeitgeberverband AGV. Beleuchtet wurden dabei sowohl die unternehmerische Seite als auch die politische Seite sowie die Perspektiven für alle gemeinsam.

Für die florierende Wirtschaft auf beiden Seiten des Rheins mit ihren engen gegenseitigen Beziehungen und Verflechtungen und für die beiden Wirtschaftsräume Schweiz und Österreich mit ihrem intensiven Warenaustausch ist es äußerst schädlich, wenn die bestehenden bilateralen Abkommen zum gemeinsamen Markt nicht mehr dynamisch angepasst werden. Wenn es keine Transformation des europäischen Handelsrechts in das Schweizer Recht geben wird. Oder wenn künftig etwa Schweizer Zertifikate in Europa keine Anerkennungen mehr finden.

Am meisten vom Beitritt profitiert
„In Vorarlberg würden Sie wohl kaum jemanden finden, der aus der EU austreten will“, stellte IV-Vorarlberg-Präsident Martin Ohneberg fest, und fügte hinzu: „Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hat unser Bundesland österreichweit am meisten vom Beitritt profitiert. Wir sind Bestandteil der Modellregion Bodensee mit dem wichtigen Wirtschaftspartner Schweiz. Unser Raum ist prädestiniert für eine noch engere Zusammenarbeit.“

Wie bedeutend die Zusammenarbeit zwischen Vorarlberg und dem St. Galler Rheintal ist, belegen die Wirtschaftsdaten: Vorarlberger Unternehmen exportieren Waren und Dienstleistungen für 1,3 Milliarden Euro in die Schweiz, umgekehrt sind es nur 900 Millionen. Darüber hinaus sind 240 Vorarlberger Unternehmen in der Schweiz ansässig.  

Aber auch aus Schweizer Sicht ist die Zusammenarbeit relevant, wie das Beispiel von SFS verdeutlicht: So kommen 20 Prozent der 2.500 Mitarbeiter in der Schweiz als Grenzgänger aus Vorarlberg, 40 Prozent aller Produkte werden in die EU verkauft.

Grund des Scheiterns
Angesprochen wurde auch der vermeintliche Grund des Scheiterns der Verhandlungen. „Schon Martin Luther hat vor Jahrhunderten dem Reformator Huldrych Zwingli entgegnet ‚Ihr seid anderen Geistes‘“. So brachte es Robert A. Müller vom Schweizer Arbeitgeberverband AGV auf den Punkt. „In der Schweiz ist man nicht gewohnt, dass andere dreinreden können, dass der Europäische Gerichtshof oder die EU-Kommission Vorschriften machen könnten. Dass eine dynamische Rechtsübernahme stattfindet.“  

Einig waren sich die Unternehmervertreter darin, dass die bilateralen Verträge eigentlich den Königsweg darstellen. Was auch weiter so bleiben soll. Und dafür müsse man Lösungen finden. Claude Stadler, Konzernleitungsmitglied von SFS: „Planungsunsicherheit ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung!“ Martin Ohneberg betonte: „Die Unternehmerseite hat gemeinsam ein großes Interesse an der Zusammenarbeit über den Rhein hinweg. Denn auf die Politik müssen wir zu lange warten.“

Erodieren der Vorschriften
Undine Zach-Palvelli vom Außenwirtschafts-Center der WKO in Zürich behandelte die Frage, ob der derzeitige Stillstand der Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz zu einem Erodieren der Vorschriften und Wirtschaftsbeziehungen führe, oder ob es sich nur um einen Sturm im Wasserglas handle. Denn schließlich ist die derzeitige Situation unhaltbar: die geltenden bilateralen Verträge werden nicht aktualisiert und keine neuen Verträge abgeschlossen.  

Zu schaffen macht dies insbesondere der Medtech-Branche und dem Forschungsbereich, dazu fehlt für die Schweizer Strom- Versorgungssicherheit ein entsprechendes Abkommen mit der EU. „Dynamische Entwicklungen treffen auf einen extrem pragmatischen Ansatz.“

In der Finalrunde kamen Vertreter aus der Politik beidseits des Rheins zu Wort. NR Mike Egger (SVP) verwies darauf, dass die 120 bilateralen Verträge ja nach wie vor in Kraft seien. „Das Rahmenabkommen war kein guter Weg, hätte die Rechtssicherheit in der Schweiz gefährdet und wäre mit dem Rechtsangleichungsmechanismus ein direkter Angriff auf die direkte Demokratie. Der Bundesrat hat mit dem Stopp der Verhandlungen weise entschieden.“

Ständerat Benedikt Würth (Die Mitte) sah die Sache „nicht so entspannt“. Es sei doch logisch, dass man bei internationalen Verträgen nationale und internationale Gesetzgebung und Rechtsprechung regeln müsse. „Der bilaterale Weg wird erodieren. Was der Schweizer Bundesrat gemacht hat, war ein Abbruch der Verhandlungen ohne Plan B. Jetzt will man innerhalb der Schweiz einen Konsens finden und erst 2024 wieder Gespräche mit der EU führen. Nichts anderes als ein hilfloser Versuch, sich über die Wahlen zu retten. Das kritisiere ich. Denn unsere Regierung muss jetzt liefern, da gibt es in Wahrheit kein Warten auf 2024!“

Die Abgeordnete im Europaparlament Claudia Gamon (Neos) wies darauf hin, dass die EU momentan auf eine Antwort aus der Schweiz warte, wie es denn weitergehen solle. Es gehe ganz einfach nicht, über Jahre zu verhandeln und ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen, und dieses dann im letzten Moment wieder aufschnüren zu wollen. Und man müsse in der Schweiz berücksichtigen: „Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Erfolgs des Projekts EU. Der Europäische Gerichtshof bietet Sicherheit gegen jede Art der Willkür.“

Vertrauensbildende Maßnahmen
Für den österreichischen Nationalrat Norbert Sieber (ÖVP), Vorsitzender der österreichisch-schweizerischen Freundschaftsgruppe der Parlamentarier, sei der Verhandlungsabbruch durch die Schweiz ein Schock gewesen. „Aber wir müssen weiterkommen und vertrauensbildende Maßnahmen mit beiderseitigem Verständnis setzen. Da ist es gut, dass die Schweiz als ersten Schritt jetzt die Kohäsionsmilliarde freigegeben hat. Es dürfen auf beiden Seiten keine Druckszenarien mehr entstehen.“

Schweizer Trümpfe
IV-Vorarlberg-Geschäftsführer Christian Zoll sieht auch abseits der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einen Vorteil in der Kooperation: „Die besten Unis sind nicht in der EU, sie befinden sich in Großbritannien und in der Schweiz. Und auch bei der Innovation nimmt die Schweiz Platz 1 ein.“ Andererseits müsse aber auch der Schweiz daran gelegen sein, mit ihren Nachbarn ein gutes Verhältnis zu haben, denn schließlich sei der wichtigste Handelspartner der Schweizer Wirtschaft die EU.

Seit Menschengedenken arbeitet der Wirtschaftsraum mit dem Vorarlberger und dem Schweizer Rheintal sehr eng und direkt zusammen. So gesehen ist das aktuelle Scheitern der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zu den bilateralen Beziehungen zwar schmerzhaft, aber hoffentlich keine Erschütterung eines starken Fundaments.  

Was aber für alle wichtig ist, speziell für die Unternehmen, ist Planungssicherheit, rechtliche Sicherheit und damit klare Perspektiven für die Zukunft.

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